Interview mit Nida Yapar, Migrationsexpertin bei SUCHT.HAMBURG
1. Menschen mit Migrationshintergrund haben Studien zufolge ein erhöhtes Risiko für ein problematisches oder pathologisches Spielverhalten. Wie lässt sich das erklären?
Zunächst einmal können Suchtgefährdung und -erkrankung jeden und jede in unserer Gesellschaft treffen. Bei Menschen mit Migrationshintergrund können die Migrationserfahrungen als belastender Umstand hinzukommen. Das erhöht aber nicht automatisch ein Krankheits- oder Suchtrisiko. Das gilt auch für die mögliche Entwicklung einer Glücksspielabhängigkeit.
Das Verlassen (müssen) der Heimat bringt eine Vielzahl von psychosozialen Belastungen mit sich, die meist nicht verarbeitet werden. Laut Psychotherapeutenkammer des Bundes (2012) erkranken Menschen mit eigener Migrationserfahrung um fast 60 Prozent häufiger an Depressionen. Erwiesenermaßen haben Kinder von MigrantInnen häufiger psychische Probleme als Kinder ohne Migrationshintergrund. Unter anderem treten bei ihnen Essstörungen um 50 Prozent häufiger auf. Die zweite Generation ist stark betroffen von der Migrationserfahrung der Elterngeneration und dem als belastend erlebten Werteverlust.
Es gibt eine Reihe von belastenden Lebensumständen und damit potentiell suchterhöhenden Faktoren, von denen Menschen mit Migrationshintergrund stärker und häufiger betroffen sind, wie etwa Diskriminierung, Chancenungleichheit in Schule und Beruf,
ein unsicherer Aufenthaltsstatus und oftmals Segregation in den Stadtteilen. Alle diese Umstände können eine Suchtentstehung und damit auch ein problematisches Spielverhalten begünstigen. Deshalb müssen Menschen mit Migrationserfahrungen, die Probleme mit Glücksspielen haben, auch kultursensibel beraten und behandelt werden.
2. Können Sie an einem konkreten Beispiel erläutern, wie sich bei einer Person mit Migrationserfahrung ein riskantes Spielverhalten entwickeln kann?
Als Beispiel nehmen wir mal einen jungen Mann aus der Türkei, der eine türkischstämmige Deutsche heiratet und aufgrund der Heirat nach Deutschland kommt. Die Ehefrau ist in Deutschland zur Schule gegangen, hier sozialisiert, hat eine Berufsausbildung abgeschlossen und ist berufstätig. Ihr Ehemann kommt als sogenannter „Importbräutigam“ nach Deutschland, spricht kaum oder kein Deutsch, hat in Deutschland kein soziales Netzwerk und keinen Job. Er ist auf das Geld seiner Ehefrau angewiesen. In traditionellen, kollektivistischen Gesellschaften ist das sozusagen der „Ruin“, denn der Mann kann nicht seinen finanziellen Teil für die Familie leisten. Außerdem kann er nicht nach außen kommunizieren und erlebt dadurch einen enormen Werteverlust (Stichwort: Ehre). Dieser Mann ist auf sich gestellt, wenn die Ehefrau arbeiten geht. Er entdeckt ein türkisches Café in seiner Straße, stellt fest, dass die Männer dort alle türkisch sprechen und in ähnlichen Verhältnissen wie er selbst leben. Er verbringt bald jeden Tag in diesem türkischen Café. Man trinkt viel Tee/ Kaffee miteinander, spielt Kartenspiele, schaut Sportsendungen. Aufregender wird es, wenn dann die Fußballwetten beginnen. Dieser Mann wird ein „Experte“ in Sachen Fußball. Da er wenige andere Alltagskompetenzen hat bzw. auslebt, beschäftigt er sich viel mit Sportereignissen und spielt immer häufiger. Durch das regelmäßige Spielen steigt dann sein Risiko, dass ihm das Thema entgleitet.
3. Welche Migrationsgruppen sind von besonders stark gefährdet, ein problematisches Spielverhalten zu entwickeln, welche weniger?
Laut aktueller Studien, unter anderem der SCHULBUS-Studie aus Hamburg sind vor allem junge Männer aus dem orientalischen Raum (Türkei, Iran, Afghanistan usw.) eine gefährdetere Gruppe für problematisches oder pathologisches Spielverhalten. Aber es zeigen sich auch andere „Schwerpunkte“. So ist in Berlin die Gruppe der vietnamesischen Männer überrepräsentiert und in der Schweiz (Raum Zürich) sind männliche Tamilen auffällig.
4. Über welche Zugangswege lassen sich diese Zielgruppen gut erreichen?
Wie für alle Menschen, gilt auch in diesem Fall: Am besten erreichen wir unsere „Zielgruppen“ über direkte Ansprache und vor allem Teilhabe. Am besten beteiligen wir die Menschen, um die es uns geht, bereits bei der Entwicklung von Konzepten und Strategien. Ein gutes Beispiel ist das Modellvorhaben transVer (transkulturelle Versorgung von Suchtkranken), das von 2009 bis 2012 bundesweit an sechs Modellstandorten durchgeführt wurde. Daraus entstand die Handreichung „Zugänge finden, Türen öffnen: transkulturelle Suchthilfe“. Des Weiteren bieten wir mit unserem Hamburger Projekt „Herkunft-Ankunft-Zukunft“ einen niedrigschwelligen Zugang zum Suchthilfesystem an.
Vor allem empfehle ich den Fachkräften immer, mit den Migrantenorganisationen in der unmittelbaren Nachbarschaft/Stadtteil zu kooperieren. Denn je nach Fall (Sprache, Komplexität der Aufgaben) kann man sich gegenseitig unterstützen und ergänzen. Das spart längerfristig Zeit und Beratungsabbrüche. Das ist in Flächenländern meist schwerer. In Hamburg gibt es aber überall in der Stadt Migrantenorganisationen (Beratungsstellen), die entsprechend dem Bezirk oder Stadtteil die vorhanden Herkunftssprachen vor Ort mit ihren Fachberaterinnen und Fachberatern abdecken. Diese Organisationen beraten die Menschen mit Migrationshintergrund in ihren Alltagsfragen, d.h. rechtlichen Fragen, Aufenthaltsstatus, Fragen zur Bildung, zum Arbeitslosengeld, Erziehung, Wohnanträgen usw.. Und sie informieren über weitere Unterstützungsmöglichkeiten, zum Beispiel über Hilfe bei Glücksspielproblemen.
Nicht zuletzt bietet SUCHT.HAMBURG mit der Kampagne Automatisch Verloren auch Informationen in verschiedenen Sprachen. So ist die Website in türkischer Sprache abrufbar.
Danke an Nida Yapar für die Beantwortung der Fragen. Nida Yapar ist Referentin für Suchtprävention und Kulturelle Vielfalt bei der SUCHT.HAMBURG.